© Jan Christoph Meister. All rights reserved. Version 03.09.2003. Contact: mail@jcmeister.de

 

 

„Der schwedische Reiter“: von der Schuld der Identität[*]

 

Wie soll man sich die Welt erklären? Gibt es das, das eine, große Prinzip, aus dem heraus alles seinen Sinn gewinnt – oder ist die Welt überhaupt nichts anderes als das Gesamt aller ihrer so verschiedenen  Erklärungen, von denen jede einzelne nur ein Stück weit trägt?

Diese Frage beschäftigt die Menschheit seit Archilocus, dem der berühmte Vergleich zwischen Fuchs und Igel zugesprochen wird. Der „Fuchs“ weiß viele Dinge, sprich: er ist Relativist; der „Igel“ hingegen weiß Eines, das aber mit absoluter Gewißheit: er ist der Fundamentalist. So zumindest deutet der Philosoph Isaiah Berlin die Stelle und bezieht sie kenntnisreich auf Tolstoys Geschichtsphilosophie.[1]   Auch der Denker Leo Perutz hatte einen überaus scharfen Blick für diesen Gegensatz der Deutungsprinzipien. Der Autor Leo Perutz jedoch wäre der Letzte gewesen, der philosophischen Tiefsinn in einen literarischen Bauchladen hätte stopfen und damit beim Publikum hausieren gehen wollen.  Perutz verschlüsselt das Profunde lieber in kompakte Handlungsszenen und legt mit den Mitteln von Wortwitz, kunstvoll archaisierter Syntax, Komik und Blasphemie obendrein noch eine falsche Fährte. So liegen dann etwa im  „Schwedischen Reiter“ ein adliger Haudegen und eine Magd im Bett, und die Frau bemerkt schnippisch, daß „der Herr des Spieles allzufrüh müde geworden“ sei: „Das Öl ist verzehrt, das Lämpchen erloschen, hat nicht gar lang gebrannt“, so klagt sie kokett.  Der postkoital Ermattete jedoch weiß die Spitze auf den zu früh geknickten Mannesstolz schlagfertig und ironisch zu glätten – und zwar mit einer  atemberaubend komischen Metapher, die zudem noch eine blasphemische Kapriole schlägt:

 

„Das kommt vom Fasten,“ sagte der Mann im Bett.  „Ich halte alle Fasttage, ich bin hinter der himmlischen Freude her wie der Jäger hinter der wilden Sau.“[2]

 

So also geht es einem, der über der Suche nach dem Absoluten die Freude am Flüchtigen und Besonderen verliert: jeder lustvolle Gedanke wird ihm zur intellektuellen ejaculatio praecox.  Lassen wir uns dieses Bild zur Warnung gereichen, hinter der letzten Bedeutung des „Schwedischen Reiter“ her zu sein wie „der Jäger hinter der wilden Sau“.  Bleiben wir  vielmehr „Füchse“, halten wir die „Lust am Spiel“ der Bedeutungsfacetten wach und das Lämpchen am Brennen – und gönnen wir uns dennoch, und sei’s auch nur für die Dauer eines Vortrags, die „himmlische Freude“ am Tiefsinn.  Folgende Schritte erwarten Sie auf dem Weg zu eben dieser: Erstens soll eine Skizze zur Motiv- und Stofftradition gewagt  werden, innerhalb derer wir diesen in den Jahren 1928-1936 entstandenen Roman verorten können. Zweitens möchte ich zeigen, daß Perutz  im Unterschied zu anderen Verwertern eben dieser Motivvorlage eine Perspektive abgewinnt, die den „Schwedischen Reiter“ zu weit mehr als nur einem weiteren Beitrag zur Debatte um die Krisis des Identitätsbewußtseins der Moderne erhebt, wie sie im „Jungen“ und „Jüngsten Wien“ geführt wurde. Denn es geht Perutz nicht um die Krisis der Identität, sondern um die Dialektik des Identitätsbegriffes, eines Begriffes nämlich, den man sowohl modern, und das heißt: kritisch-relativistisch, wie vormodern, sprich: theologisch-fundamentalistisch fassen kann.  Schritt drei jedoch - und damit mein Fazit - nehme ich hier gleich vorweg. Es gibt im Oeuvre des Leo Perutz drei herausragende Werke, mit denen sich unser Autor als ein Humanist ersten Ranges erwiesen hat. Das erste ist der Novellenroman „Nachts unter der steinernen Brücke“, der ein veritables Gegenstück zu Lessings Appell an die Humanitas schlechthin darstellt. Das zweite ist der Künstlerroman „Der Judas des Leonardo“, in dem Perutz die mimetische Kunstauffassung – das Gemälde als Abbild historischer Wirklichkeit – mit einer prophetisch-ästhetischen konterkariert, die das Kunstwerk zum Künder tieferer, wiewohl nur subjektiv erfahrbarer Wahrheit erhebt.   Das schlechthin größte Buch aber ist „Der schwedische Reiter“. Ich weiß, das ist ein  apodiktisches Urteil und also eines „Igels“ würdig.  Genau deshalb braucht es sie alle am wenigsten zu bekümmern – zumal sich, wie der „Fuchs“ weiß, auf die eine oder andere Weise (beinahe) jedes Buch des Leo Perutz in diese Größe teilt.

 

 

Der Inhalt

Rekapitulieren wir zunächst den Inhalt des Romans.  Wir schreiben das Jahr 1700. Zwei Männer stolpern auf der Flucht vor den Dragonern, ihren Häschern, durch das winterliche Schlesien.  Der eine, Christian von Tornefeld, ist ein junger Adliger und Deserteur, der zum schwedischen König Karl XII. überwechseln will. Der andere ist ein namenloser Landstreicher. Die beiden nehmen Unterschlupf in einer alten Mühle und gehen damit nolens volens einen Kontrakt mit dem gespenstischen Müller ein, der nun vom Tornefeld Geld verlangt, den mittellosen Dieb jedoch als Arbeitssklaven in eine nahegelegene bischöfliche Erzhütte verkaufen will.  Tornefeld ist zu schwach und ängstlich, um zum Gut seiner nahebei wohnenden adligen Verwandten zu gehen und sich dort Geld für den Müller und Pferd und Ausrüstung für das schwedische Heer zu leihen; statt seiner macht sich aus Mitleid und Abenteuerlust der Dieb auf den Weg. Schon auf dem Weg zum Gut Kleinroop, erst Recht aber nach der Begegnung mit der jungen Gutsherrin und Demoiselle Maria Agneta entscheidet sich der Namenlose:  er will ein neues Leben führen, einen neuen Namen tragen und die junge Frau, die sich dem treulosen jungen Tornefeld versprochen hat, für sich erringen. Und so belügt er nach seiner Rückkehr den Nebenbuhler Tornefeld, versetzt ihn in Todesangst  und bietet ihm dann in scheinbarer Großherzigkeit an, daß er ihm seinen Platz in der  Erzhütte des Bischofs abtrete, um Tornefelds Leben zu retten. Der arglose Tornefeld willigt ein und läßt sich vom Müller abführen.  Der Dieb aber muß, bevor er endgültig die Identität des Tornefeld – des „schwedischen Reiters“ eben – annehmen kann, erst Reichtum erwerben, um die auf dem Gut Maria Agnetas lastenden Schulden abzulösen. Er verlegt sich deshalb für ein Jahr auf den Kirchenraub. Dann löst er seine Bande auf und reitet zum zweiten Mal an der Mühle vorbei. Im Schlaf hat er hier eine Vision vom Gottesgericht:  der Herr spricht ihn zwar von der Schuld an Mund- und Kirchenraub frei, nicht jedoch von der, dem Tornefeld gegenüber das gebotene Mitleid verweigert und ein Versprechen gebrochen zu haben. Zur Strafe wird dem Dieb untersagt, jemals seine wahre Identität preiszugeben – ein merkwürdiges Urteil, denn was läge ihm ferner als eben dies?

Als Christian von Tornefeld hält er nun zum zweiten Male auf dem Gut Einzug. Ein Siegelring, ein blauer Schwedenrock, sein Wissen um einige Kindheitserinnerungen, die Christian und Maria Agneta teilen, genügen - Frau und Hof fallen in seine Hand.  Er aber bestätigt sich als liebender Ehemann und Vater einer Tochter wie als hart arbeitender und erfolgreicher Gutsherr.  Sieben fette Jahre lang währt das Glück, dann schlägt das Schicksal zu: eine Geliebte aus Räubertagen droht ihn zu verraten.  Der falsche Christian von Tornefeld verläßt Hof, Weib und Kind unter dem Vorwand, ins schwedische Heer gerufen worden zu sein.  Sein Versuch, zuvor noch die „rote Lies“ mundtot zu machen, schlägt fehl, denn im Handgemenge brennt ihm die ehemalige Geliebte ein Galgenzeichen auf die Stirn. So bleibt dem Dieb als letzte Zuflucht jetzt tatsächlich nur noch die Erzhütte, die „Hölle des Bischofs“.  Zum dritten Male kommt er zur alten Mühle. Hier wartet schon der wahre Tornefeld, der soeben seine neunjährige Fron beendet hat und nun endlich und schnurstracks in den Krieg ziehen will.  Die Rollen werden nochmals getauscht, und der wahre Tornefeld reüssiert an der Front. Der Dieb jedoch schuftet im Bergwerk; in der Dunkelheit aber stiehlt er sich immer wieder davon und besucht seine kleine Tochter.  In der Nacht, in der er sich endlich seiner Frau offenbaren will, stürzt er zu Tode.  Just zu der Stunde, als der triste Leichenzug des nunmehr Namenlosen am Gutshof vorbeigeführt wird, trifft auch die Nachricht vom Tode des wahren Christian von Tornefeld dort ein.  Die kleine Tochter wird von der  Mutter angehalten für die Seele ihres in der Ferne gefallenen Vaters zu beten; aber wie kann sie dies tun, wo sie ihn doch des Nachts in ihrem eigenen Zimmer lebend gesehen hat?  Um nicht ungehorsam zu sein, betet die kleine Maria Christine statt dessen im Stillen für die Seele des Leichnams, der gerade am Haus vorbeigefahren wird: und damit also doch für die Seele ihres wahren Vaters.  Für sie selbst indes bleibt es bis ans Ende ihrer Tage ein Rätsel, wie der schwedische Reiter zur gleichen Zeit im Kriege kämpfen, aufsteigen und schließlich fallen und sie, das Kind, des Nachts in ihrem Zimmer besuchen konnte:  ein Rätsel, um das nur wir, die Leser wissen, weil uns der Erzähler in sein Vertrauen geschlossen hat.

 

 

Die Motivtradition

Der Tausch von Identitäten wie die Unfähigkeit der Umwelt, zu erkennen, daß einer gar nicht der ist, der er zu sein scheint, sind seit der Antike ein beliebtes Motiv. Von Homer über Ovid bis Kleist (Amphytrion) traktieren insbesondere die Olympier uns Sterbliche mit diesem Vexierspiel, und das nicht zum geringsten Teil zum Zwecke puren Lustgewinns. Daß in diesen Erzählungen die  heimtückisch-göttlich begatteten Frauen den Schwindel in schöner Regelmäßigkeit nicht durchschauen, ist ein Topos, dessen ideologiekritische Aburteilung wir uns schenken wollen.  Was philosophisch schon eher interessiert, ist die sich im Topos als Topos offenbarende Angst, daß nicht einmal intimste Kenntnis und Interaktion mit einem Anderen uns Gewißheit über die Identität seines wahren Selbst zu verschaffen vermag; ja, das vielleicht gerade in der Intimität das Risiko des Verkennens ein größeres ist. Die Urteilskraft verhält sich, wie wir seit Heisenberg auch in einer nüchternen Disziplin wie der Physik voraussetzen, invers proportional, das Wahrnehmungsvermögen indes direkt proportional zur Gegenstandsnähe. Diesem philosophischen Dilemma zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis, zwischen notwendiger Nähe und geforderter Distanz sind und bleiben bis heute allein die Götter enthoben.    

Hinweise auf diese Motivkomponente lassen sich im „Schwedischen Reiter“ nicht allein in der Rahmenerzählung, die das Thema ja explizit aufgreift, finden.  Die grandiose Passage, in der der Landstreicher auf dem Weg zum Gut Kleinroop anhand diverser Indizien – dem Zustand der Felder, der Gebäude, des Viehs – Rückschlüsse auf die Identität des Gutsbesitzers zu ziehen versucht, die dann doch alle in die Irre führen, zählt zu den fesselndsten und doch zugleich unprätentiösesten inneren Monologen der modernen Literatur; ein Monolog, der uns Glanz und Elend des hermeneutischen Relativismus durch das Bewußtsein einer erzählten Figur in voller Klarheit erleben läßt.

Aber Motive sind eine Sache, Handlungen eine andere, und problematischer wird die Sache für den Literaturwissenschaftler entsprechend dort, wo er Parallelstrukturen im Sujet – in der Infrastruktur der Handlung, der Story also – nachgezeichnet sehen will.  Für manchen liegt hier das Mißverständnis nahe, es solle nachgewiesen werden, wo der Autor, um es einmal ganz platt zu sagen, „abgeschrieben“ hat.  Eben darum geht es hier ausdrücklich nicht.  Wenn ich im Folgenden dem „Schwedischen Reiter“ zwei andere Texte zur Seite lege, so allein deshalb, um einen Kontrast in der Stoffbehandlung zu verdeutlichen, an dem der Eigenwert des Romans hervortritt.  Auch Perutz hat zum Beispiel, wie wir vermuten dürfen, seinen Homer mit einigem Gewinn gelesen.  Erinnern wir uns: im siebzehnten Gesang der Odyssee  gelangt der als Bettler verkleidete Held endlich an seinem Hofe an, wo ihn nur einer erkennt – sein Hund Argos, der sich zum Sterben auf einen Misthaufen gelegt hat. Eumäos, der nichtsahnende Begleiter des Bettlers,  erzählt ihm daraufhin, dies sei der Hund des verstorbenen Odysseus; das Tier sei ehemals wohl gehalten worden, aber jetzt, wo der Herr tot sei, verkomme es im Elend, denn:

Das ist die Art der Bedienten:  Sobald sie ihr Herr nicht antreibt, / Werden sie träge zum Guten und gehen nicht gern an die Arbeit.[3]

 

Im Palast schwelgen derweil die adligen Freier, die die treue Königin Penelopeia hart bedrängen und sich nach Kräften am fremden Besitz bereichern.  Im „Schwedischen Reiter“ wird eine bis in manches Detail vergleichbare Szene entworfen:  die junge Demoiselle Maria Agneta verwaltet einen Besitz, der von ihrem lüsternen Onkel planvoll abgewirtschaftet wird, um sie zur Ehe zu nötigen, während logierende Dragoner und betrügerische Dienerschaft das Gut wortwörtlich auffressen und das Vieh im Stall verreckt. Und wie Odysseus sich Penelopeia im 23. Gesang schließlich durch ein altes Geheimnis entdeckt, wird auch der Dieb Maria Agneta mit einer alten Geschichte – hier ist es allerdings keine beziehungsreiche von einem Bett, sondern die protestantisch-keusche einer Schlittenfahrt - von seiner Identität überzeugen. Ja, selbst in der Lust an Ironie und Sophistik kann man, wenn man denn möchte, den Dieb als einen Nachfahr des Ithakers erkennen. Und doch hat sich die Story zugleich und ganz entscheidend in ihr Gegenteil verkehrt:  Odysseus ist der wahre Adlige und Herr, der sich listig als Bettler verstellt, bevor er seinen angestammten Besitz zurückerobert; unser Landstreicher hingegen verstellt sich als Adliger und reklamiert einen Besitz, den er überhaupt erst durch eine doppelte Transaktion – Heirat und Abkauf der Schuldverschreibungen – erwerben muß. Der Aristokrat Odysseus liebt den Kampf – das unter den Freiern angerichtete Gemetzel wird dies nochmals bestätigen; der falsche Tornefeld hingegen ist ein beinharter bürgerlicher Realist, der Risiken klug abzuwägen weiß.  Ja, man möchte es fast bedauern, daß die Hausse des Historischen Materialismus in der Literaturwissenschaft eine Sache des letzten Jahrtausends geworden ist – denn was, wenn nicht agroproletarisches Klassenbewußtsein und plötzliche Einsicht in die Dialektik des historischen Prozesses demonstriert unser Held, wenn er unter Stockhieben sagt:

 

„Schlagt zu! Schlagt zu! Schlagt zu! Ich bin nur von geringer Herkunft, darum begehr‘ ich auch nicht von der Armut Geld zu nehmen (...)“.

Und in seinem vom Fieber erregten Hirn entstand ein ungeheuerlicher Gedanke: Als wäre er kein Landstreicher und Dieb, sondern ein Edelmann, und daß er wiederkommen müßte und Ordnung machen unter den Knechten, Ordnung auf seinem Hof, denn all das, das Mädchen, das Haus, der Hof, die Felder, das mußte sein eigen werden.[4]

 

Das im „Schwedischen Reiter“ neben die Anmaßung einer falschen personalen zugleich die einer falschen Standes-Identität tritt, unterscheidet Perutz‘ Roman auch von dem zweiten Vergleichstext, der ausschließlich im bäuerlichen Milieu spielt.  Wobei eigentlich weder von „Spielen“, noch von „Text“ die Rede sein dürfte, handelt es sich hier doch um einen historisch verbürgten Fall, der allerdings eine erstaunliche literarische und sogar cinematographische Wirkungsgeschichte nach sich gezogen hat.

1557 erscheint in einem Pyrenäendorf der seit 8 Jahren verschollene Bauer Martin Guerre. Das ganze Dorf, die weitere Familie, seine Schwestern, ja selbst seine Ehefrau nehmen den Heimkehrer mit offenen Armen auf.  1560 – also drei Jahre später - bricht jedoch Streit aus und eine vom Onkel Pierre Guerre angeführte Familienfraktion behauptet nun, der angebliche Martin sei ein Betrüger.  Doch dessen Ehefrau Bertrande, die mittlerweile auch eine kleine Tochter mit Martin hat, beteuert seine Identität. Dann aber wechselt sie plötzlich und unter dubiosen Umständen ins Lager des Onkels über.  Martin Guerre wird in Rieux und Toulouse der Prozeß gemacht; das frappierende Detailwissen des Angeklagten überzeugt aber selbst das Gericht, daß hier offenbar ein Irrtum oder ein Fall von übler Nachrede vorliegen muß.  Das Gericht will Martin freisprechen, da erscheint plötzlich ein Zeuge, der Martin wie aus dem Gesicht geschnitten sieht. Bertrande identifiziert diesen als den wahren Martin Guerre. Der falsche Guerre – so er denn tatsächlich der falsche war - beteuert indes weiterhin seine Unschuld und Identität; erst unter dem Galgen stehend gibt er zu, Arnaud du Tilh zu heissen.  Er wird gehenkt und sein Körper auf dem Scheiterhaufen verbrannt.[5]

Am Anfang der bis ins 16. Jahrhundert zurückreichenden Wirkungsgeschichte dieser wahren Story steht ein Bericht, den der vorsitzende Richter Jean de Coras veröffentlichte. Zwischen 1561 und 1800 erscheinen mehr als 20 Publikationen, die sich in der einen oder anderen Form der Geschichte des Martin Guerre annehmen.[6] Die erste deutschsprachige Übertragung des Ursprungstextes ist vermutlich 1761 in Halle erschienen.[7] Bereits seit 1734 jedoch zirkuliert jenes Werk, das mehrfach ergänzt werden und Generationen von – literarischen wie sonstigen - Hobbykriminalisten zur Fundgrube werden sollte:  Francois Gayot de Pitavals „Causes célèbres et intèressantes“. [8]  Der „Pitaval“, in dem die Geschichte des Martin Guerre noch in Neuauflagen an erster Stelle steht, wird bald zum Synonym für die ebenso „merkwürdige“ wie „wahre“ Kriminalgeschichte schlechthin.[9]  Daß auch Perutz das Buch gekannt hat, ist wahrscheinlich; belegen kann (und muß) man es jedoch nicht.

Was nun die Rezeption und Beurteilung des Vorganges selbst angeht, so lassen sich  im wesentlichen vier Phasen unterscheiden.[10]  Das sechzehnte Jahrhundert bewegt erstens die weniger legalistische als vielmehr moralische Frage, ob das von de Coras verhängte Todesurteil  angesichts der schwierig zu durchschauenden Sachlage richtig war; zweitens möchte man sich die frappierende Ähnlichkeit im Aussehen der beiden Martin Guerres und die Teilhabe des Einen an der Erinnerung des anderen erklären, und sei es auch unter Rückgriff auf die Kategorie des Wunderbaren.  Das siebzehnte Jahrhundert will an der Geschichte des Martin Guerre den Begriff des Betrugs expliziert sehen.  Im achtzehnten Jahrhundert tritt mit dem Erscheinen des „Pitaval“ ein anderes Interesse in den Vordergrund; jetzt gilt der Fall als einer von mehreren, an denen man, dem juristischen Argumentationsmodell folgend, seine Urteilskraft schärfen kann. Als auch literarisch ertragreichen Stoff würdigen erst die Publikationen des späten 18. und 19. Jahrhunderts den Fall, und erst im 20. Jahrhundert wird die Rolle der Bertrande de Rols in Janet Lewis Roman „The Wife of Martin Guerre“ (1941) von einer weiblichen Autorin gedeutet. Auch in unseren Tagen bleibt das Thema interessant und dient einer Oper und einem Musical zur Vorlage.[11] 1983 wird der Stoff dann erstmals mit Gérard Depardieu in der Hauptrolle verfilmt; 1993 dreht Jon Amiel mit Richard Gere und Jodie Foster eine Neuadaption unter dem Titel „Somersby“, wobei die Handlung in den amerikanischen Südstaat Virginia in der Nachbürgerkriegszeit verlegt wird.  Amiels Version – in der übrigens in aller Deutlichkeit auf Odysseus angespielt wird – gibt der Identitätsproblematik dabei übrigens eine weitere dramatische Wendung: der falsche Jack Somersby sieht sich plötzlich eines kaltblütigen Mordes angeklagt, den der wahre, aber mittlerweile tote Somersby  begangen hat.  Damit aber ist der Held vor die Wahl gestellt, entweder seine Identität zu verlieren und dafür sein Leben zu behalten, oder aber auf seiner Identität als Jack Somersby zu insistieren und – gehenkt zu werden.  Das nun ist eine logische Volte, wie wir sie gerade von Perutz kennen; es gibt im Film übrigens noch eine ganze Reihe weiterer Story-Elemente, die verdächtig nach dem „Schwedischen Reiter“ aussehen.  Unter den Credits indes taucht kein entsprechender Hinweis auf. [12]

 

Identität und Schuld

Wenn auch das nackte Ereignisgerüst der Sensationsgeschichte des Martin Guerre über weite Strecken dem Geschehen im dritten Teil des „Schwedischen Reiter“ kongruent verläuft,  so läßt sich doch schnell erkennen, daß Perutz‘ Adaption – wenn es denn überhaupt eine sein sollte; ein kleines Indiz, das dafür sprechen könnte, ist die Tatsache, daß der falsche Tornefeld wie der falsche Guerre mit der getäuschten Ehefrau eine Tochter haben – eine deutlich andere Fragestellung verfolgt, als wir sie in der Rezeption des Guerre-Stoffes bis dato vorfinden konnten.  Auch Amiels Verfilmung bleibt im Vergleich zum „Schwedischen Reiter“ bis kurz vor Schluß zu sehr der narrativen Außenperspektive auf den Helden verhaftet, als daß sie sich von der vergleichsweise trivialen Frage nach seiner „wahren“ Identität lösen könnte. Perutz handelt diese hingegen in der einleitenden Rahmenerzählung auf ganzen sechs Seiten ab. Für die Binneneerzählung hat sich dann mit der Wahl der Erzählperspektive das Problem bereits erledigt; wir wissen als Leser von Anfang an, wie die Dinge liegen. Nicht erledigt hat sich hingegen die Frage der Zuschreibung von Identität, die übrigens kein geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz wiederum auch am Beispiel des Martin Guerre diskutierte. Leibniz widmet sich der Frage, wie man zuverlässig zur Idee der Individuation – also der Erkenntnis eines Individuums als eines einzigartigen und unverwechselbaren Wesens - gelangen könne. Denn schon eine „mittlere Ähnlichkeit“ in Verbindung „mit einiger Geschicklichkeit“  könne ja, wie der Fall Guerre gezeigt habe, die Ehefrau, nächste Verwandte, ja selbst unbeteiligte Richter täuschen und verwirren.[13]  Aber es muß nochmals unterstrichen werden: auch Leibniz erörtert hier die Frage der äußeren Zuschreibung von Identität an einen beobachteten Gegenstand bzw. eine Person.  Das und wie sehr man sich dabei irren kann mag zwar ein Dauerbrenner der Literaturgeschichte sein, sozusagen der sprichwörtliche Funken, der sich aus dem nassen Lappen aller Verwechslungs- und Detektivgeschichten wringen läßt.  Für Perutz jedoch steht im Zentrum die Frage nach der Selbstzuschreibung von Identität, nach dem fixen Punkt, an dem ein Individuum – um so mehr, wenn es wie der Held im „Schwedischen Reiter“ die Außenzuschreibungen von Identität bewußt manipuliert! -  noch die Kontinuität des eigenen Ich ermessen kann.  Diese Frage hatte u.a. Immanuel Kant erörtert, der die Vorstellung von der Identität des „Ich“ als eine bezeichnete, die bestenfalls „paralogisch“ zu beweisen sei.  Kants nüchterne Folgerung:

 

Es ist also die Identität des Bewußtseins meiner selbst in verschiedenen Zeiten nur eine formale Bedingung meiner Gedanken und ihres Zusammenhanges, beweist aber gar nicht die numerische Identität meines Subjekts, in welchem, ohnerachtet der logischen Identität des Ich, doch ein solcher Wechsel vorgegangen sein kann, der es nicht erlaubt, die Identität desselben beizubehalten.                                   

(Kant, 1781:444a)  

 

Die „logische“ Identität, die wir uns selbst zuschreiben, und die „numerische“ Identität, die uns als von außen beobachteten Objekten zugeschrieben wird,  fallen damit seit Kant endgültig auseinander.  Aber ein Identitätsbegriff, der sich auf die Bestimmung als bloße „formale Bedingung der Gedanken und ihres Zusammenhalts“ oder den berühmten Machschen „Wartesaal der Empfindungen“ zurückzieht, bietet keinen Trost. Das wußten und beklagten auch die literarischen Zeitgenossen des Leo Perutz.[14] Gibt es einen Ausweg, eine Möglichkeit zur Restitution eines absoluten Begriffs von subjektiver Identität?   Hans-Harald Müller hat in seinem kenntnisreichen Nachwort zu der Neuauflage des Perutzschen Romans 1993 behauptet, daß die beiden Helden des Romans – also der wahre wie der falsche Tornefeld – den „identitätsstiftenden Sinn ihrer Lebensgeschichte“ wie die „ethische Einstellung zur Welt“ selbst entwerfen, daß wir in beidem also eine „freie Leistung des Ich“ sehen müssen.[15]  Dieser Hypothese – die wir im übrigen auch in Jon Amiels Film ausgedrückt sehen können - kann ich nur zustimmen, und zwar mit einem rückhaltlosen „Jein“.[16]

 

 

Misericordia

Denn es gibt unter der Oberfläche des scheinbar wüsten und orientierungslosen Daseins unserer Helden durchaus noch eine Möglichkeit zur Restitution absoluter Identität und unverrückbarer ethischer Normen.  Der „Schwedischen Reiter“ von Leo Perutz insistiert auf dieser Möglichkeit mit dem ebenso subtilen wie hartnäckigen Hinweis auf eine These, die dem modernen Denken zwar fremd geworden ist, die jedoch den Menschen bis zur Aufklärung durchaus geläufig war.  Es ist die Vorstellung vom unauflösbaren Zusammenhang von Identität, Schuld, und weltlicher wie göttlicher misericordia; mitleidvoller, tätiger Barmherzigkeit also.[17]

Die Idee der misericordia hat insbesondere das 16. und 17. Jahrhundert in ganz außerordentlichem Maße beschäftigt. 1524 eröffnet Erasmus von Rotterdam mit der noch im gleichen Jahr (mindestens) fünf Mal aufgelegten Schrift De immensa Dei misericordia, die bereits 1525 ins Deutsche übersetzt wird und hier Hochprysung der ungemeßnen Barmhertzigkeit Gottes heißt, eine Debatte, die allein im Zeitraum bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges fast vierzig gedruckte Publikationen nach sich zieht.  Bis zu dem von unserem Roman gesetzten Stichdatum 1700 wächst die Zahl dann auf beinahe einhundert Titel an.[18] Das lateinische Wort misericordia – und diese Tatsache erklärt die Verve, mit der man sich der Frage im 16. Jahrhundert annimmt - bezeichnet nun aber sowohl das nur passive „Mitleid“ wie die aktiv geübte „Barmherzigkeit“; eine Unterscheidung, die seit Thomas von Aquin betont wird.[19]  Bloßes affektgeladenes Mitleid alleine reicht jedoch nicht aus; gefordert ist vielmehr tätige Barmherzigkeit.  Dieses ethische Gebot leitet sich von der Barmherzigkeit Gottes her, der den Menschen ihre Schuld ebenfalls nicht nur abstrakt, sondern tätig vergibt. Neben den Begriff der misericordia tritt in der Debatte damit der kontrastive der iustitia; der – göttlichen wie weltlichen – Rechtsprechung also, die strikt und folgerichtig nach Rechtsprinzipien verfährt.  Welchem Prinzip aber gebührt der Vorrang – misericordia oder iustitia?  Die Antwort ist eindeutig: Selbst in der Praxis des Kirchenrechts gilt – und diese These kann man bis ins 12. Jahrhundert zu Alger von Lüttichs Traktat „De misericordia et iustitia“ zurückverfolgen – letztendlich der Primat der Barmherzigkeit vor dem kühlen Schuldspruch.[20] 

Auch der Begriff der „Schuld“ hat jedoch infolge der Säkularisierung eine Bedeutungsverengung erfahren, die dem voraufklärerischen Denken fremd gewesen wäre, und die hier in Rechnung zu stellen ist. In der nachaufklärerischen Philosophie verstehen wir unter „Schuld“ primär die Zuschreibung der Fähigkeit zur (womöglich justitiablen) Verursachung an ein frei handelndes Subjekt, während der Aspekt der Verletzung absoluter ethisch-moralischer Normen der Philosophie zunehmend wesensfremd wird. In der barocken Welt des „Schwedischen Reiter“ jedoch ist Verursachung – also das, worin sich der gottgegebene freie Wille des Individuums in der empirischen Welt manifestiert – immer zugleich: metaphysische Schuld.  Wer als Individuum handelt – egal, ob dies nun nach Menschenmaß „gutes“ oder „schlechtes“ Handeln ist – ist in Gottes Augen immer auch ein Schuldiger. Die „große Elendsbruderschaft“, der der Landstreicher sich zugehörig fühlt,[21] das ist damit nicht etwa nur die Gemeinschaft der Outcasts: es ist nach dem zeitgemäßen Weltbild die Menschheit schlechthin.  Schuldiger zu werden heißt, sich seines freien Willens zu bedienen; sich seines freien Willens zu bedienen heißt, Schuldiger zu sein:  denn der einzige Wille, der sich jenseits aller Schuld manifestieren kann, ist per definitionem der göttliche.  Für den aufgeklärten heutigen Zeitgenossen klingt das gefährlich nach Selbstverlust und ewigem geistigen Duckmäusertum gegenüber göttlicher, wenn nicht gar kirchlicher Autorität – in der Welt des „Schwedischen Reiter“ jedoch ist die Koppelung von Schuld- und Ichbewußtsein durchaus lebbar.  Hier nämlich zieht, im deutlichen Gegensatz zur späteren bürgerlichen Welt, Schuld ja durchaus nicht mit Notwendigkeit göttliche Strafe nach sich – und das ist und bleibt  die einzige Strafe, die für dieses Denken wirklich zu Buche schlägt.   Nirgends wird dies deutlicher als in der Vision vom Gottesgericht, die der „Schwedischen Reiter“ bei seinem zweiten Besuch der alten Mühle hat:  der Herr vergibt ihm ohne zu zögern den Mund- wie den Kirchenraub.  Uns scheint das blasphemisch; ob man es indes nach der immanenten Logik der von Perutz erzählten Welt auch so beurteilen muß, ist eine andere Frage. Gott selbst hat schließlich im Programmdesign dieser seiner Welt die Möglichkeit zur Individualität und damit zur Schuld  eingebaut, oder um es mit den ironischen Worten des Räuberhauptmanns zu sagen: „Und wenn der Teufel in mich gefahren ist, so tat er es nach Gottes Willen und Beschluß.  Denn ohne Gottes Beschluß kann der Teufel nicht einmal in eine Sau fahren, lies der Herr Mathäum.“[22]

Ist unsere gottgegebene Freiheit zur Schuld also eine Lizenz, zu tun und zu lassen wie  uns beliebt?  Mitnichten, denn da gibt es eben jene entscheidende Zusatzklausel, und über eben diese wird unser Held stolpern und zugrunde gehen. Sie lautet: misericordia. Gott läßt grenzenlose Gnade und Barmherzigkeit walten – solange der Mensch selbst nicht das Gebot der Barmherzigkeit seinem Mitmenschen gegenüber verletzt.[23] In der Welt des „Schwedischen Reiter“ sichert der Nachweis tätiger misericordia einem Gottes Barmherzigkeit; vernichtende Folgen aber zieht es nach sich, wenn einer die Barmherzigkeit verweigert oder gar betrügerisch vortäuscht.  Spüren wir diesem Motiv – ich möchte es das misericordia-Motiv nennen – gezielt im Roman nach, so finden wir es unweigerlich an eben jenen Stellen der Handlung plaziert, wo die Entscheidungen über Wohl und Wehe unseres Helden fallen. Der Barmherzigkeit Maria Agnetas verdankt der Dieb sein Leben; seiner Verweigerung bzw. Vortäuschung von Mitleid und Barmherzigkeit gegenüber dem jungen Tornefeld verdankt er die Strafe Gottes. Seiner ihm von der kleinen Christine abgerungenen Barmherzigkeit gegenüber den zwei Landstreichern ist der nochmalige Aufschub des fatalen Schicksalsschlages geschuldet; seinem mitleidlosen und hochherzigen Verstoßen der „roten Lies“ hingegen der Verrat, mit dem die ehemalige Geliebte sein Schicksal besiegelt. In all‘ diesem aber hat der Held zudem noch einen Leidensgesellen und eine Parallelfigur, die man leicht übersieht: den gespenstischen Müller, den Untoten und Widergänger. Der hatte eine andere Art der Sünde am Barmherzigkeitsgebot auf sich geladen: nämlich den Zweifel an der göttlichen Barmherzigkeit, der ihn zum Selbstmord verleitete.  Die Strafe, die den Müller dafür ereilt,  ist die nämliche, die auch dem Dieb im Gottesgericht zuteil wird: das Verbot, sich mitzuteilen und so an die Barmherzigkeit der Mitmenschen zu appellieren.  Erst auf seinem letzten Weg zur „Hölle des Bischofs“, als er seine metaphysische Schuld  abgetragen hat, darf der Müller seine Geschichte aus eigenem Mund erzählen, um im selben Moment zu Asche zu zerfallen.  Und erst im Todesmoment des Namenlosen gelingt es dem Erzengel, den Herrn zum zweiten Male und jetzt mit Erfolg um Barmherzigkeit für den Dieb zu bitten, und so wird die kleine Maria Christine schließlich doch noch ein Gebet für ihren Vater sprechen.

Schuld als die absolute, metaphysische Letztbegründung der Identität, misericordia als absolutes ethisches Postulat für die Lebenspraxis des Menschen, die sich wiederum in göttliche Barmherzigkeit und damit Lossagung des Menschen von der Schuld der Individualität ummünzt: das ist die Antwort, die Leo Perutz im „Schwedischen Reiter“ vor dem Hintergrund der Krisis des Identitätsbewußtseins seiner eigenen Zeit, in der Rekonstruktion einer historischen Bewußtseinslage erprobt, ohne sie jedoch – wie wäre dies auch möglich? –  zur Maxime zu erheben.  Sicher, auf den ersten Blick scheint die Welt des „Schwedischen Reiter“ eine heillose, verwirrte zu sein, in der kein Fixpunkt zu gewinnen ist:

 

„Warum hat Gott die Menschen nicht alle zu Christen gemacht? Warum gibt es soviel Türken und Juden? Da ist etwas nicht so, wie es sein sollt‘.“ [24]

 

So fragt sich etwa in der Mitte des Buches ein junger Adliger, kurz bevor er sich um sein Leben schwadroniert. Man hätte den guten Mann beruhigen können:  in seiner Welt, in der Welt des „Schwedischen Reiter“ war, dem kenntnisreichen Erzähler Leo Perutz sei’s gedankt,  alles so, wie es sein sollte, und das exactement.  Der Fehler liegt,  und dieses ceterum censeo weiß der unaufdringliche Humanist Leo Perutz seine Leser immer wieder selbst ziehen zu lassen, in der unseren.

 

 

 



[*] Elektronische Version, 03.09.2003. – Originalabdruck erschienen in: Brigitte Forster, Hans-Harald Müller: Leo Perutz: Unruhige Träume - Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung. Wien (Sonderzahl) 2002:143 - 159



Anmerkungen

 

 

[1] Zu dieser philosophischen Thematik siehe Berlin, Isaiha: “The Hedgehog and the Fox.” Chicago (Elephant Paperback) 1993. Berlin erörtert das Dilemma in diesem schmalen, aber scharfsinnigen Buch am Beispiel von Tolstoy.

[2] Leo Perutz, “Der schwedische Reiter”.  Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hans-Harald Müller.  München 1993, S.56. – Nachfolgend mit der Sigel  SR zitiert. 

[3] Homer, Odyssee, 17. Gesang, Vers 306f, 320f.   Nach der Übertragung von Johann Heinrich Voss, München o.J. (= Wilhelm Goldmann Verlag, Reihe Goldmanns Gelbe Taschenbücher Bd. 374).

[4] „Schwedischen Reiter“, S.73

[5] Zur Geschichte des Martin Guerre siehe: Davis, Natalie Zemon: “Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre. Mit einem Nachwort von Carlo Ginzburg. Aus d. Franz. von Ute und Wolf Heirich Leube.”, Frankfurt a.M. (Fischer TB), 1989.

[6] Siehe hierzu die eingehende Untersuchung der Wirkungsgeschichte und Stofftradition in Davis, Natalie Zemon: “The Return of Martin Guerre.” Cambridge,MA. /  London (Harvard University Press) 1983. –  dies., “Martin Guerre”, in: dies.; “Lebensgänge. Glikl. Zwi Hirsch. Leone Modena. Martin Guerre. Ad me ipsum. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Kaiser.” Berlin (Wagenbach) 1998, S. 57-74.

[7] Es ist  die Übersetzung  eines Buches von Jean Baptiste de Rocoles, das nun den Titel „Geschichte merkwürdiger Betrüger“ trägt.  Siehe hierzu Davis 1983:130

[8] vgl. Davis 1983: 130

[9] 1963 noch erscheint in Deutschland eine überarbeitete und ergänzte mehrbändige Reihe, die „Der Neue Pitaval“ heißt.  Den ersten Band „Die Hölle“ eröffnet auch hier die Geschichte des Martin Guerre; die Herausgeber haben ihr jetzt den Obertitel „Amphitryon 1560“ gegeben.  Siehe Mostar, Gerhart Herrmann; Stemmle, Robert A.:”Die Hölle”. München, Wien, Basel (Verlag Kurt Desch) = Bd. 1 der Reihe "Der Neue Pitaval".

[10] Ich folge hierin der Darstellung in Davis 1998, S. 62-68.

[11] Zu den Adaptionen in Oper und Musical siehe “The History of Martin Guerre”, o.N., http://www.geocities.com/Broadway/Stage/5566/history.html; zu den Filmadaptionen Kempley, Rita: “Somersby”. In: Washington Post, 5.02.1993 bzw. im Internet unter http://www.washingtonpost.com/wp-srv/style/longt.../sommersbypg13kempley_a0a35a.html

[12] Zu den Adaptionen in Oper und Musical siehe “The History of Martin Guerre”, o.N., http://www.geocities.com/Broadway/Stage/5566/history.html; zu den Filmadaptionen Kempley, Rita: “Somersby”. In: Washington Post, 5.02.1993 bzw. im Internet unter http://www.washingtonpost.com/wp-srv/style/longt.../sommersbypg13kempley_a0a35a.html .  In Amiels Adaption liest der Held, dessen wahrer Name beziehungsreich genug „Horace“ lautet, seinem Sohn mit Vorliebe aus der „Odyssee“ vor.  Sehr deutlich an den „Schwedischen Reiter“ erinnert dagegen erstens die Gesamtanlage der Story:  der falsche Somersby hält auf dem Hof Einzug und erweist sich als liebender Ehemann und erfolgreicher Tabakfarmer; als ein Mann also, der in allem das genaue Gegenstück zu dem brutalen Lebemann darstellt, der der wahre Somersby offenbar gewesen war. Dies ist dann auch der Grund, warum die Frau zu ihm hält, obwohl sie sich seiner falschen Identität voll bewußt ist. Weitere Motivanklänge finden sich in Details.  So gibt es zum Beispiel eine Szene, in der drei Landstreicher und ehemalige Kumpane des wahren Somersby auf dem Besitz des falschen Einzug halten – dies erinnert deutlich an das Auftauchen von Veiland und Wendehals auf  Gut Kleinroop: siehe SR, S.177f.

[13] Leibniz, zit. nach Davis 1998:65

[14] Wie zurückhaltend aber dennoch dezidiert sich Perutz im Vergleich dazu mit der Thematik auseinandersetzt, legt Hans-Harald Müller in seinem kenntnisreichen Nachwort zum “Schwedischen Reiter” dar. Siehe SR,  254-258.

[15] Ebenda, S. 256 bzw. 257.

[16] Meine nachfolgende Interpretation steht ebenfalls im Kontrast zu der von Michael Mandelartz, der zu dem Ergebnis kommt: „Der Optimismus etwa der Aufklärung, daß moralisches Verhalten sich auszahle, wird hier in sein Gegenteil umgekehrt.“ (siehe ders., „Die Herrschaft der Ökonomie. Leo Perutz Der schwedische Reiter.“; in: Studies in Humanities, No.27. Shinshu University 1993, S.213-220; hier S. 219.)  Mir scheint dies, wie nun gezeigt werden wird, zu kurz gegriffen.

[17] Zum Begriff der Misericordia siehe u.a. Wagner, Falk: „Mitleid“; in: „Theologische Realenzyklopädie“, Bd. XXIII, Berlin, New York (de Gruyter): 1994, Bd. XXIII, S. 105 – 110. Hier wie in anderen eingesehenen theologischen Standardenzyklopädien wird der mittelalterliche Begriff der Misericordia hauptsächlich unter der Perspektive der Ambivalenz Mitleid/Barmherzigkeit diskutiert;  als eigenständig indexalisch erfaßtes Stichwort taucht der lateinische Terminus nicht mehr auf.  Das mutet wenigstens mir als Nicht-Theologen angesichts der Vielzahl der Publikationen, die das ausgehende Mittelalter der Thematik gewidmet hat, und mehr noch gerade weil der lateinische Begriff beide Bedutungsinhalte umfaßt, doch einigermaßen seltsam und unhistorisch an.  Siehe dazu auch die nachfolgende Anmerkung. 

[18] Darunter finden sich Traktate, Predigten und Monographien. - Diese Schätzung basiert auf dem Ergebnis einer Schlagwortrecherche im GBV-Gesamtkatalog der deutschen Bibliotheken ( = http://www.gbv.de), die zum Begriff  Misericordia insgesamt 151 Titel auswirft; knapp zehn sind davon abzuziehen, weil der Begriff  den kirchenkalendarischen “Sonntag Misericordia Domini” meint.

[19] Siehe hierzu den Artikel Wagner, Falk: “Mitleid” in: “Theologische Realenzyklopädie”, Berlin / New York (de Gruyter) 1994, Bd. XXIII, S.105-110

[20] Vgl. Kretzschmar, Robert: “Alger von Lüttichs Traktat De misericordia et iustitia.  Ein kanonistischer Konkordanzversuch aus der Zeit des Investiturstreits.” Sigmaringen (Jan Throbecke Verlag), 1985: S. 33ff.

[21] SR, S. 25

[22] SR, S. 115

[23] Dieses Motiv findet sich wiederum auch in der Odyssee: unmittelbar vor dem finalen Showdown im Palast von Ithaka heißt es: “(Und) Pallas Athene/ nahte sich abermals dem Laertiaden Odysseus/ Und ermahnt‘ ihn, sich Brosam von allen Freiern zu sammeln,/ Daß er die mildgesinnten und die ungerechten erkennte...” (17. Gesang, Zeile 361-363). Der Nachweis von Milde und Barmherzigkeit hat in der antiken Welt des Odysseus jedoch nur abstrakten Wert; hier gilt unabdingbar: „iustitia rules“.  Und so werden denn auch die mildtätigen Freier vom Rächer Odysseus erschlagen werden.

[24] SR, S.125